Sieben Reden an die Toten

By Helmut, 12. April 2011

C. G. Jung ließ die „Septem Sermones ad Mortuoa“ (Sieben Reden an die Toten) als Broschüre im Privatdruck erscheinen. Er verschenkte sie gelegentlich an Freunde. Im Buchhandel war sie nie erhältlich.
Die Schrift enthält bildhafte Andeutungen oder Vorwegnahmen von Gedanken, die in Jungs wissenschaftlichem Werk später eine Rolle spielten, vor allem die Gegensatznatur des Geistes, des Lebens und der psychologischen Aussage.
Das Denken in Paradoxien war es, das Jung bei den Gnostikern angezogen hatte. Deshalb identifizierte er sich hier mit dem Gnostiker Basilides (Anfang des 2.Jahrhunderts n.Chr.) und hielt sich zum Teil auch an dessen Terminologie, z.B. Gott als Abraxas.

Jung gab seine Erlaubnis zur Publikation in seinem Erinnerungsbuch nur zögernd und nur „um der Ehrlichkeit willen“. Die Auflösung des Anagramms am Schluß hat er nicht verraten.
Wenn man bedenkt das der folgende Text 1916 verfasst wurde, ist es umso erstaunlicher, das gerade in der heutigen Zeit, in der ja heftige Diskussionen zwischen Esoterikern, Bibelgläubigen und Materialisten ablaufen, der Inhalt immer noch eine hochgradige Aktualität besitzt.

 

Sieben Reden an die Toten

 
 

REDE I

Die Toten kamen zurück von Jerusalem, wo sie nicht fanden, was sie suchten. Sie begehrten bei mir Einlaß und verlangten bei mir Lehre und so lehrte ich sie:
Höret: Ich beginne beim Nichts. Das Nichts ist dasselbe wie die Fülle. In der Unendlichkeit ist voll so gut wie leer. Das Nichts ist leer und voll. Ihr könnt auch ebenso gut etwas anderes vom Nichts sagen, z.B. es sei weiß oder schwarz oder es sei nicht, oder es sei. Ein unendliches und ewiges hat keine Eigenschaften, weil es alle Eigenschaften hat.
Das Nichts oder die Fülle nennen wir das PLEROMA. Dort drin hört Denken und Sein auf, denn das Ewige und Unendliche hat keine Eigenschaften. In ihm ist keiner, denn er wäre dann vom Pleroma unterschieden und hätte Eigenschaften, die ihn als etwas vom Pleroma unterschieden.
Im Pleroma ist nichts und alles: Es lohnt sich nicht über das Pleroma nachzudenken, denn das hieße: Sich selber auflösen.
Die CREATUR ist nicht im Pleroma, sondern in sich. Das Pleroma ist Anfang und Ende der Creatur. Es geht durch sie hindurch, wie das Sonnenlicht die Luft überall durchdringt. Obschon das Pleroma durchaus hindurch geht, so hat die Creatur doch nicht Teil daran, so wie ein vollkommen durchsichtiger Körper weder hell noch dunkel wird durch das Licht, das durch ihn hindurch geht.
Wir sind aber das Pleroma selber, denn wir sind ein Teil des Ewigen und des Unendlichen. Wir haben aber nicht Teil daran, sondern sind vom Pleroma unendlich weit entfernt, nicht räumlich oder zeitlich, sondern WESENTLICH, indem wir uns im Wesen vom Pleroma, unterscheiden als Creatur, die in Zeit und Raum beschränkt ist.
Indem wir aber Teile des Pleroma sind, so ist das Pleroma auch in uns. Auch in kleinsten Punkt ist das Pleroma unendlich, ewig und ganz, denn klein und groß sind Eigenschaften, die in ihm enthalten sind. Es ist das Nichts, das überall ganz ist und unaufhörlich. Daher rede ich von der Creatur als einem Teile des Pleroma, nur sinnbildlich, denn das Pleroma ist wirklich nirgends geteilt, denn es ist das Nichts. Wir sind auch das gesamte Pleroma, denn sinnbildlich ist das Pleroma der kleinste nur angenommene, nicht seinende Punkt in uns und das unendliche Weltgewölbe um uns. Warum aber sprechen wir dann überhaupt vom Pleroma, wenn es doch Alles und Nichts ist?
Ich rede davon, um irgendwo zu beginnen, und um euch den Wahn zu nehmen, daß irgendwo außen oder innen ein von vornherein Festes oder irgendwie Bestimmtes sei. Alles so genannte Feste oder Bestimmte ist nur verhältnismäßig. Nur das dem Wandel unterworfene ist fest und bestimmt.
Das Wandelbare aber ist die Kreatur, also ist sie das einzig feste und bestimmte, denn sie hat Eigenschaften, ja sie ist selber Eigenschaft.

Wir erheben die Frage: Wie ist die Kreatur entstanden? Die Kreaturen sind entstanden, nicht aber die Kreatur, denn sie ist die Eigenschaft des Pleroma selber, so gut wie die Nichtschöpfung, der ewige Tod. Kreatur ist immer und überall, Tod ist immer und überall. Das Pleroma hat alles, Unterschiedenheit und Un-unterschiedenheit
Die Unterschiedenheit ist die Kreatur. Sie ist unterschieden. Unterschiedenheit ist ihr Wesen, darum unterscheidet sie auch. Darum unterscheidet der Mensch, denn sein Wesen ist Unterschiedenheit. Darum unterscheidet er auch die Eigenschaften des Pleroma, die nicht sind. Er unterscheidet sie aus seinem Wissen heraus. Darum muß der Mensch von den Eigenschaften des Pleroma reden, die nicht sind.
Ihr sagt: Was nützt es, davon zu reden? Du sagtest doch selber, es lohne sich nicht, über das Pleroma zu denken.
Ich sagte euch das, um euch vom Wahne zu befreien, dass man über das Pleroma denken könne. Wenn wir die Eigenschaften des Pleroma unterscheiden, so reden wir aus unserer Unterschiedheit und über unsere unterschiedenheit, und haben nichts gesagt über das Pleroma. Über unsere Unterschiedenheit aber zu reden ist notwendig, damit wir uns genügend unterscheiden können. Unser Wissen ist Unterschiedenheit. Wenn wir diesem Wesen nicht getreu sind, so unterscheiden wir uns ungenügend. Wir müssen darum Unterscheidungen der Eigenschaften machen.
Ihr fragt: Was schadet es, sich nicht zu unterscheiden?
Wenn wir nicht unterscheiden, dann geraten wir über unser Wesen hinaus, über die Kreatur hinaus und fallen in die Ununterschiedenheit, die die andere Eigenschaft des Pleroma ist. Wir fallen in das Pleroma selber und geben es auf, Creatur zu sein. Wir verfallen der Auflösung im Nichts.
Das ist der Tod der Kreatur. Also sterben wir in dem Maße, als wie wir uns nicht unterscheiden. Darum geht das natürliche Streben der Kreatur auf Unterschiedenheit,- Kampf gegen uranfängliche, gefährliche Gleichheit. Dies nennt man das PRINCIPIUM INDIVIDUATIONIS. Dieses Prinzip ist das Wesen der Kreatur. Ihr seht daraus, warum die Ununterschiedenheit und das nicht unterscheiden eine große Gefahr für die Kreatur ist.
Darum müssen wir die Eigenschaften des Pleroma unterscheiden. Die Eigenschaften sind die GEGENSATZPAARE, als
Das wirksame und das unwirksame
Die Fülle und die Leere
Das Lebendige und das Tote
Das Verschiedene und das Gleiche
Das Helle und das Dunkle
Das Heiße und das Kalte
Die Kraft und der Stoff
Die Zeit und der Raum
Das Gute und das Böse
Das Schöne und das Häßliche
Das Eine und das Viele etc.
Die Gegensatzpaare sind die Eigenschaften des Pleroma, die nicht sind, weil sie sich aufheben.
Da wir das Pleroma selber sind, so haben wir auch alle diese Eigenschaften in uns; da der Grund unseres Wesens Unterschiedenheit ist, so haben wir die Eigenschaften im Namen und Zeichen der Unterschiedenheit, das bedeutet:
Erstens:
Die Eigenschaften sind in uns voneinander unterschieden und geschieden, darum heben sie sich nicht auf, sondern sind wirksam. Darum sind wir das Opfer der Gegensatzpaare. In uns ist das PLEROMA zerrissen.
Zweitens:
Die Eigenschaften gehören dem Pleroma, und wir können und sollen sie nur im Namen und Zeichen der Unterschiedenheit besitzen oder leben. Wir sollen uns von den Eigenschaften unterscheiden. Im PLEROMA heben sie sich auf, in uns nicht. Unterscheidung von Ihnen erlöst.
Wenn wir nach dem Guten oder Schönen streben, so vergessen wir unser Wesen, das Unterschiedenheit ist und wir verfallen den Eigenschaften des Pleroma, als welche die Gegensatzpaare sind. Wir bemühen uns, das Gute und Schöne zu erlangen, aber zugleich auch erfassen wir das Böse und Häßliche, denn sie sind im PLEROMA eins mit dem Guten und Schönen. Wenn wir aber unserm Wesen getreu bleiben, nämlich der Unterschiedenheit, dann unterscheiden wir uns vom Guten und Schönen, und darum auch vom Bösen und Häßlichen, und wir fallen nicht ins Pleroma, nämlich in das Nichts,- in die Auflösung.
Ihr werfet ein: Du sagtest, daß das Verschiedene und Gleiche auch Eigenschaften des PLEROMA seien. Wie ist es, wenn wir nach Verschiedenheit streben? Sind wir dann nicht unserm Unwesen getreu? Und müssen wir dann auch der Gleichheit verfallen, wenn wir nach Verschiedenheit streben?
Er soll nicht vergessen, daß das Pleroma keine Eigenschaften hat. Wir erschaffen sie durch das Denken. Wenn ihr also nach Verschiedenheit oder Gleichheit oder sonstigen Eigenschaften strebt, so strebt ihr nach Gedanken, die euch aus dem PLEROMA zufließen, nämlich Gedanken über die nicht seienden Eigenschaften des Pleroma. Indem ihr nach diesen Gedanken rennt, fallet ihr wiederum ins PLEROMA und erreicht Verschiedenheit und Gleichheit zugleich. Nicht euer Denken, sondern euer Wesen ist Unterschiedenheit. Darum sollt ihr nicht nach Verschiedenheit, wie Ihr sie denkt, streben, sondern NACH EUREM WESEN. Darum gibt es im Grunde nur ein Streben, nämlich das Streben nach dem eigenen Wesen. Wenn ihr dieses Streben hättet, so bräuchtet ihr auch gar nichts über das Pleroma und seine Eigenschaften zu wissen und kämet doch zum richtigen Ziele, dank der Kraft eures Wesens. Da aber das Denken vom Wesen entfremdet, so muß ich euch das Wissen lehren, womit ihr euer Denken im Zaume halten könnet.

 

REDE II

Die Toten standen in der Nacht an den Wänden entlang und riefen:

Von Gott wollen wir wissen, wo ist Gott? Ist Gott tot?
Gott ist nicht tot, es ist so lebendig wie je. Gott ist Kreatur, denn er ist etwas bestimmtes und darum vom Pleroma unterschieden. Gott ist Eigenschaft des PLEROMA, und alles, was ich von der Kreatur sagte, gilt auch von ihm.
Er unterscheidet sich aber von der Kreatur dadurch, daß er viel undeutlicher und unbestimmbarer ist, als die Creatur. Er ist weniger unterschieden als die Kreatur, denn der Grund seines Wesens ist wirksame Fülle, und nur sofern er bestimmt und unterschieden ist, ist er Kreatur, und insofern ist er die Verdeutlichung der wirksamen Fülle des Pleroma.
Alles, was wir nicht unterscheiden, fällt ins PLEROMA und hebt sich mit seinem Gegensatz auf. Darum, wenn wir Gott nicht unterscheiden, so ist die wirksame Fülle für uns aufgehoben.
Gott ist auch das PLEROMA selber, wie auch jeder kleinste Punkt im geschaffenen und im ungeschaffenen das Pleroma selber ist.
Die wirksame Leere ist das Wesen des Teufels. Gott und Teufel sind die ersten Verdeutlichungen des Nichts, das wir Pleroma nennen. Es ist gleichgültig ob das PLEROMA ist, oder nicht ist, denn es hebt sich in allem selber auf. Nicht so die Kreatur. Insofern Gott und Teufel Kreaturen sind, heben sie sich nicht auf, sondern bestehen gegen einander als wirksame Gegensätze.
Wir brauchen keinen Beweis für Ihr sein, es genügt, das wir immer wieder von Ihnen reden müssen. Auch wenn beide nicht wären, so würde die Kreatur aus ihrem Wesen der Unterschiedenheit heraus, sie immer wieder aus dem Pleroma heraus unterscheiden.
Alles was die Unterscheidung aus dem Pleroma heraus nimmt, ist Gegensatzpaar, daher zu Gott immer auch der Teufel gehört.
Diese Zusammengehörigkeit ist so innig, und wie ihr erfahren habt, auch in eurem Leben so unauflösbar, wie das Pleroma selber. Das kommt davon, daß die beiden ganz nah am Pleroma stehen, in welchem alle Gegensätze aufgehoben und eins sind.
Gott und Teufel sind unterschieden durch voll und leer, Zeugung und Zerstörung. Das WIRKENDE ist ihnen gemeinsam. Das Wirkende verbindet sie. Darum steht das Wirkende über beiden und ist ein Gott über Gott, denn es vereinigt die Fülle und die Leere in ihrer Wirkung.
Dies ist ein Gott, von dem ihr nicht wußtet, denn die Menschen vergaßen ihn. Wir nehmen ihn mit seinem Namen ABRAXAS. Er ist noch unbestimmter als Gott und Teufel.
Um Gott von ihm zu unterscheiden, nennen wir Gott HELIOS oder Sonne. Der Abraxas ist Wirkung, ihm steht nichts entgegen, als das Unwirksame, daher seine wirkende Natur sich frei entfaltet. Das Unwirksame ist nicht und widersteht nicht. Der Abraxas steht über der Sonne und über dem Teufel. Er ist das unwahrscheinlich Wahrscheinliche, daß unwirksam Wirkende: Hätte das Pleroma ein Wesen, so wäre der Abraxas seine Verdeutlichung.
Er ist zwar das Wirkende selbst, aber keine bestimmte Wirkung, sondern Wirkung überhaupt.
Er ist unwirksam wirkend, weil er keine bestimmte Wirkung hat.
Er ist auch Kreatur, da er vom Pleroma unterschieden ist.
Die Sonne hat eine bestimmte Wirkung, ebenso der Teufel, daher sie uns viel wirksamer erscheinen als der unbestimmbare Abraxas.
Er ist Kraft, Dauer, Wandel.

Hier erhoben die Toten großen Tumult, denn sie waren Christen.

 

REDE III

Die Toten kamen heran wie Nebel aus Sümpfen und riefen: Rede uns weiter über den obersten Gott.

Der Abraxas ist der schwer erkennbare Gott. Seine Macht ist die größte, denn der Mensch sieht sie nicht. Von der Sonne sieht er das Summum Bonum, vom Teufel das Infinum malum, von Abraxas aber das Nichts, das in allen Hinsichten unbestimmte LEBEN, welches die Mutter des Guten und des Übels ist.
Das Leben scheint kleiner und schwächer zu sein als das Summum Bonum, weshalb es auch schwer ist zu denken, daß der Abraxas an Macht sogar die Sonne übertreffe, die doch der strahlende Quell aller Lebenskraft ist.
Der Abraxas ist Sonne und zugleich der ewig saugende Schlund des Leeren, des Verkleinerers und Zerstücklers, des Teufels.
Die Macht des Abraxas ist zwiefach. Ihr seht sie aber nicht, denn in euren Augen hebt sich das gegeneinander gerichtete dieser Macht auf.
Was Gott Sonne spricht, ist Leben
Was der Teufel spricht, ist Tod
Der Abraxas aber spricht das verehrungswürdige und verfluchte Wort, das Leben und Tod zugleich ist.
Der Abraxas zeugt Wahrheit und Lüge, Gutes und Böses, Licht und Finsternis im selben Wort, und in derselben Tat. Darum ist der Abraxas fruchtbar.
Er ist prächtig wie der Löwe im Augenblick, wo er sein Opfer niederschlägt. Er ist schön wie ein Frühlingstag.
Ja er ist der große Pan selber und der Kleine. Er ist Priapos.
Er ist das Monstrum der Unterwelt, ein Polyp mit tausend Armen, beflügeltes Schlangengeringel, Raserei.
Er ist der Hermaphrodit des untersten Anfanges.
Er ist der Herr der Kröten und Frösche, die im Wasser wohnen und an’s Land steigen, die am Mittag und um Mitternacht im Chore singen.
Er ist das Volle, das sich mit dem leeren einigt
Er ist die heilige Begattung
Er ist die Liebe und ihr Mord
Ist der Heilige und sein Verräter
Er ist das hellste Licht des Tages und die tiefste Nacht des Wahnsinns
Ihn sehen heißt Blindheit
Ihn erkennen heißt Krankheit
Ihn antreten heißt Tod
Ihn fürchten heißt Weißheit
Ihm nicht widerstehen heißt Erlösung
Gott wohnt hinter der Sonne und der Teufel hinter der Nacht. Was Gott aus dem Licht gebiert, zieht der Teufel in die Nacht. Der Abraxas aber ist die Welt, ihr Werden und Vergehen selber. Zu jeder Gabe des Gottes Sonne stellt der Teufel seinen Fluch.
Alles was ihr vom Gott Sonne erbittet, zeugt eine Tat des Teufels. Alles was ihr mit Gott Sonne erschafft, gibt dem Teufel Gewalt des Wirkens.
Das ist der furchtbare Abraxas.
Er ist die gewaltigste Kreatur und in ihm erschrickt die Kreatur vor sich selber. Er ist der geoffenbarte Widerspruch der Kreatur gegen das Pleroma sein Nichts.
Er ist das Entsetzen des Sohnes vor der Mutter
Er ist die Liebe der Mutter zum Sohne
Er ist das Entzücken der Erde und die Grausamkeit der Himmel
Der Mensch erstarrt vor seinem Anlitz
Vor ihm gibt es nicht Frage und nicht Antwort
Er ist das Leben der Kreatur
Er ist das Wirken der Unterschiedenheit
Er ist die Liebe des Menschen
Er ist die Rede des Menschen
Er ist der Schein und der Schatten des Menschen
Er ist die täuschende Wirklichkeit

Hier heulten und tobten die Toten, denn sie waren Unvollendete.

 

REDE IV

Die Toten füllten murrend den Raum und sprachen:

Rede zu uns von Göttern und Teufeln, Verfluchter.
Gott Sonne ist das höchste Gut, der Teufel das Gegenteil, also habt ihr zwei Götter.
Es gibt viele hohe Güter und viele schwere Übel, und darunter gibt es zwei GottTeufel, der eine ist das BRENNENDE und der andere das WACHSENDE.
Das Brennende ist der EROS in Gestalt der Flamme. Sie leuchtet, indem sie verzehrt.
Das Wachsende ist der BAUM DES LEBENS, er grünt, indem er wachsend lebendigen Stoff anhäuft.
Der Eros flammt auf und stirbt dahin, der Lebensbaum aber wächst langsam und stetig durch ungemessene Zeiten
Gutes und Übles einigt sich in der Flamme
Gutes und Übles einigt sich im Wachstum des Baumes
Leben und Lieben stehen in ihrer Göttlichkeit gegeneinander
Unermeßlich, wie das Heer der Sterne, ist die Zahl der Götter und Teufel. Jeder Stern ist ein Gott und jeder Raum, den ein Stern füllt, ist ein Teufel. Das Leervolle des Ganzen aber ist das PLEROMA.
Die Wirkung des Ganzen ist der Abraxas, nur Unwirksames steht im entgegen.
Vier ist die Zahl der Hauptgötter, denn vier ist die Zahl der Ausmessungen der Welt.
Eins ist der Anfang, der Gott Sonne
Zwei ist der Eros, denn er verbindet zwei und breitet sich leuchtend aus.
Drei ist der Baum des Lebens, denn er füllt den Raum mit Körpern.
Vier ist der Teufel, denn er öffnet alles geschlossene; er löst auf alles Geformte und Körperliche, er ist der Zerstörer, in dem alles zu Nichts wird.
Wohl mir, daß es mir gegeben ist, die Vielheit und Verschiedenartigkeit der Götter zu erkennen. Wehe euch, daß ihr diese unvereinbare Vielheit durch den einen Gott ersetzt. Dadurch schafft ihr die Qual des Nichtverstehens und die Verstümmelung der Kreatur, deren Wesen und Trachten Unterschiedenheit ist. Wie seid ihr eurem Wesen getreu, wenn ihr das Viele zum einem machen wollt? Was ihr an den Göttern tut, geschieht auch an euch. Ihr werdet alle gleich gemacht und so ist euer Wesen verstümmelt.
Um des Menschen Willen herrsche Gleichheit, aber nicht um Gottes Willen, denn der Götter sind viele, der Menschen aber wenige. Die Götter sind mächtig und ertragen ihre Mannigfaltigkeit, denn wie die Sterne stehen sie in Einsamkeit und ungeheuer Entfernung von einander. Die Menschen sind schwach und ertragen ihre Mannigfaltigkeit nicht, denn sie wohnen nahe beisammen und bedürfen der Gemeinsamkeit, um ihre Besonderheit ertragen zu können. Um der Lösung Willen lehre ich euch das Verwerfliche, um dessen Willen ich zum Verworfenen wurde.
Die Vielzahl der Götter entspricht der Vielzahl der Menschen.
Unzählige Götter harren der Menschwerdung. Unzählige Götter sind Menschen gewesen. Der Mensch hat am Wesen der Götter teil, er kommt von den Göttern und geht zum Gotte.
So wie es sich nicht lohnt über das Pleroma nachzudenken, so lohnt es sich nicht, die Vielheit der Götter zu verehren. Am wenigsten lohnt es sich den ersteren Gott, die wirksame Fülle und das summum bonum, zu verehren.
Wir können durch unser Gebet Nichts dazu tun und nichts davon nehmen, denn die wirksame Leere schluckt alles in sich auf. Die hellen Götter bilden die Himmelswelt, sie ist vielfach und unendlich sich erweiternd und vergrößernd. Ihr oberster Herr ist Gott Sonne.
Die dunklen Götter bilden die Erdenwelt. Sie sind einfach und endlich, sich verkleinernd und vermindernd. Ihr unterster Herr ist der Teufel, der Mondgeist, der Trabant der Erde, kleiner und kälter und toter als die Erde.
Es ist kein Unterschied in der Macht der himmlischen und erdhaften Götter. Die Himmlischen vergrößern, die Erdhaften verkleinern. Unermeßlich in beiderlei Richtung.

 

REDE V

Die Toten spotteten und riefen: „Lehre uns, Narr, von Kirche und heiliger Gemeinschaft.“

Die Welt der Götter verdeutlicht sich in der Geistlichkeit und in der Geschlechtlichkeit. Die Himmlischen erscheinen in der Geistlichkeit, die Erdhaften in der Geschlechtlichkeit.
Geistlichkeit empfängt und erfaßt. Sie ist weiblich und darum nennen wir Sie die MATER COELESTIS, die himmlische Mutter. Geschlechtigkeit zeugt und erschafft. Sie ist männlich und darum nennen wir sie PHALLOS, den erdhaften Vater. Die Geschlechtlichkeit des Mannes ist mehr erdhaft, die Geschlechtlichkeit des Weibes ist mehr geistig. Die Geistlichkeit des Mannes ist mehr himmlisch, sie geht zum Größeren.
Die Geistlichkeit des Weibes ist mehr erdhaft, sie geht zum Kleineren.
Lügnerisch und teuflisch ist die Geistlichkeit des Mannes, die zum Kleineren gehen.
Lügnerisch und teuflisch ist die Geistlichkeit des Weibes, die zu Größerem geht.
Jeder gehe zu seiner Stelle.
Mann und Weib werden aneinander zum Teufel, wenn sie ihre geistigen Wege nicht trennen, denn das Wesen der Kreatur ist Unterschiedenheit.
Die Geschlechtlichkeit des Mannes geht zum erdhaften, die Geschlechtlichkeit des Weibes geht zum Geistigen. Mann und Weib werden aneinander zum Teufel, wenn sie ihre Geschlechtlichkeit nicht trennen.
Der Mann erkenne das Kleinere, das Weib das Größere.
Der Mensch unterscheide sich von der Geistlichkeit und von der Geschlechtlichkeit. Er nenne die Geistlichkeit Mutter und setze sie zwischen Himmel und Erde. Er nenne die Geschlechlichkeit Phallos und setzte ihn zwischen sich und die Erde, denn die Mutter und der Phallos sind übermenschliche Dämonen und Verdeutlichungen der Götterwelt. Sie sind uns wirksamer als die Götter, weil Sie unserem Wesen nahe verwandt sind. Wenn ihr euch von Geschlechtlichkeit und von Geistlichkeit nicht unterscheidet und sie nicht als Wesen über euch und um euch betrachtet, so verfallt ihr ihnen als Eigenschaften des Pleroma. Geistlichkeit und Geschlechtlichkeit sind nicht eure Eigenschaften, nicht Dinge, die ihr besitzt und umfaßt, sondern sie besitzen und umfassen euch, denn sie sind mächtige Dämonen, Erscheinungsformen der Götter, und darum Dinge, die über euch hinaus reichen und für sich bestehen. Es hat einer nicht eine Geistlichkeit für sich oder eine Geschlechtlichkeit, sondern er steht unter dem Gesetz der Geistlichkeit und der Geschlechtlichkeit. Darum entgeht keiner diesen Dämonen. Ihr sollt sie ansehen als Dämonen und als gemeinsame Sache und Gefahr, als gemeinsame Last, die das Leben euch aufgebürdet hat. So ist euch auch das Leben eine gemeinsame Sache und Gefahr, ebenso auch die Götter, zuvorderst der furchtbare Abraxas.
Der Mensch ist schwach, darum ist Gemeinschaft unerläßlich; ist es nicht die Gemeinschaft im Zeichen der Mutter, so ist es die im Zeichen des Phallos. Keine Gemeinschaft ist Leiden und Krankheit. Gemeinschaft in jeglichem ist Zerrissenheit und Auflösung.
Die Unterschiedenheit führt zum Einzelsein. Einzelsein ist gegen Gemeinschaft. Aber um der Schwäche des Menschen willen gegenüber den Göttern und Dämonen und ihrem unüberwindlichem Gesetz ist Gemeinschaft nötig. Darum sei soviel Gemeinschaft als nötig, nicht um der Menschen willen, sondern wegen der Götter. Die Götter zwingen euch zur Gemeinschaft. Soviel sie euch zwingen, so viel Gemeinschaft tut Not, mehr ist von Übel.
In der Gemeinschaft ordne sich jeder dem anderen unter, damit die Gemeinschaft erhalten bleibe, denn ihr bedürft ihrer.
Im Einzelsein ordne sich einer dem anderen über, damit jeder zu sich selber komme und Sklaverei vermeide.

In der Gemeinschaft gelte Enthaltung
Im Einzelsein gelte Verschwendung
Die Gemeinschaft ist die Tiefe
Das Einzelsein ist Höhe
Das richtige Maß in Gemeinschaft reinigt und erhält
Das richtige Maß im Einzelsein reinigt und fügt hinzu
Die Gemeinschaft gibt uns die Wärme
Das Einzelsein gibt uns das Licht

Da verstummten die Toten und versuchten zu verstehen.

 

REDE VI

Die Dämonen der Geschlechtlichkeit treten zu unsrer Seele als eine Schlange. Sie ist zur Hälfte Menschenseele und heißt Gedankenwunsch.
Der Dämon der Geistlichkeit senkt sich in unsre Seele herab als der weiße Vogel. Er ist zur Hälfte Menschenseele und heißt Wunschgedanke.
Die Schlange ist eine erdhafte Seele, halb Dämon, halb Geist und verwandt den Geistern der Toten. Wie diese, so schwärmt auch sie herum in den Dingen der Erde und bewirkt, daß wir Sie fürchten, oder daß sie unsere Begehrlicheit reizt. Die Schlange ist weiblicher Natur und sucht immer die Gesellschaft der Toten, die an die Erde gebannt sind, solche, die den Weg nicht hinüber fanden, nämlich ins Einzelsein. Die Schlange ist eine Hure und buhlt mit dem Teufel und mit den bösen Geistern, ein arger Tyrann und Quälgeist, immer zu übelester Gemeinschaft verführend. Der weiße Vogel ist eine halbhimmlische Seele des Menschen. Er weilt bei der Mutter und steigt bisweilen herab. Der Vogel ist männlich und ist wirkender Gedanke. Er ist keusch und einsam, ein Bote der Mutter. Er fliegt hoch über die Erde. Er gebietet das Einzelsein. Er bringt Kunde von den Fernen, die vorangegangen und vollendet sind. Er trägt unser Wort hinauf zur Mutter. Er tut Fürbitte, er warnt, aber er hat keine Macht gegen die Götter. Er ist ein Gefäß der Sonne. Die Schlange geht hinunter und lähmt mit List den phallischen Dämon oder stachelt ihn an. Sie trägt empor die überschlauen Gedanken des Erdhaften, die durch alle Löcher kriechen und mit der Begehrlichkeit sich überall ansaugen. Die Schlange will es zwar nicht, aber sie muß uns nützlich sein. Sie entflieht unserem Griffe und zeigt uns so den Weg, den wir aus Menschenwitz nicht fanden.

Die Toten blickten mit Verachtung und sprachen: Höre auf von Göttern, Dämonen und Seelen zu reden. Das wußten wir im Grunde schon längst.

 

REDE VII

Des Nachts aber kamen die Toten wieder mit kläglicher Gebärde und sprachen: „Noch eines, wir vergaßen davon zu reden. Lehre uns vom Menschen! „
Der Mensch ist ein Tor, durch das ihr aus der Außenwelt der Götter, Dämonen und Seelen eintretet in die Innenwelt, aus der größeren Welt in die kleinere Welt. Klein und nichtig ist der Mensch, schon habt ihr ihn im Rücken, wiederum seid ihr im unendlichen Raume, in der kleineren oder inneren Unendlichkeit.
In unendlicher Entfernung steht er als ein einziger Stern im Zenith.
Dies ist der eine Gott dieses einen, dies ist seine Welt, sein Pleroma, seine Göttlichkeit.
In dieser Welt ist der Mensch der Abraxas, der seine Welt gebiert oder verschlingt.
Dieser Stern ist der Gott und das Ziel des Menschen.
Dies ist sein einer führender Gott
In ihm geht der Mensch zu Ruhe
Zu ihm geht die lange Reise der Seele nach dem Tode, in ihm erglänzt als Licht alles, was den Menschen aus der größeren Welt zurückzieht.
Zu diesem einen bete der Mensch
Das Gebet mehrt das Licht des Sternes
Es schlägt eine Brücke über den Tod
Es bereitet das Leben der kleineren Welt
Und mindert das hoffnungslose Wünschen der größeren Welt
Wenn die größere Welt kalt wird, leuchtet der innere Stern
Nichts ist zwischen dem Menschen und seinem einen Gotte, sofern der Mensch seine Augen vom flammenden Schauspiel des Abraxas abwenden kann.
Mensch hier, Gott dort.
Schwachheit und Nichtigkeit hier, ewige Schöpferkraft dort.
Hier ganz Dunkelheit und feuchte Kühle,
dort ganz Sonne.

Darauf schwiegen die Toten und stiegen empor wie Rauch über dem Feuer des Hirten, der des Nachts seine Herde hütete. Sie fanden Ruhe in Abraxas.

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